"In IHM leben wir, bewegen wir uns und sind wir" - Prof. Dr. Matthias Reményi (Würzburg) predigt zum Weihetag des ÖZ Lengfeld am 8. Dezember 2024
Apg 17,24-28 // Lk 17,20-21
Liebe Brüder und Schwestern im Glauben!
In diese Welt ein Kind setzen – das ist das Motto, unter das das Vorbereitungsteam diesen Gottesdienst gestellt hat. Das passt nicht nur mit Blick auf Weihnachten und das Kind in der Krippe, dessen Kommen wir im Advent alle erwarten. Sondern das passt auch mit Blick auf unser Ökumenisches Zentrum – ein ganz eigenes Kind des konziliaren und ökumenischen Neuaufbruchs, das vor nunmehr 49 Jahren in die Welt gesetzt wurde und dessen Weihetag wir heute gemeinsam feiern.
Freilich: Das Motto hat auch einen bedrohlichen Unterklang. In diese Welt ein Kind setzen – ausgerechnet in diese! Sie alle kennen die multiplen Krisen, denen unsere Zeit ausgesetzt ist, am eigenen Leib, im eigenen alltäglichen Erleben: die Kriege im Nahen Osten und in der Ukraine, das Zerbrechen einer stabil geglaubten Friedensordnung bei uns in Europa, ein Anwachsen des Rechtspopulismus und der autoritären Demokratieverachtung, der Wahlsieg Trumps in den USA und bei uns das Zerbrechen der Ampelkoalition, eine schwächelnde Wirtschaft, steigende Lebenshaltungs- und Energiepreise und über allem obendrauf noch die Klimakrise mit ihren unabsehbaren und wahrscheinlich auch schon unabwendbaren massiven Folgen für unser globales politisches und unser lokales gesellschaftliches Zusammenleben. Raue Zeiten.
Es gibt ein neues Wort, das ich in diesem Zusammenhang gelernt habe: News-Fatigue. Das meint die Müdigkeit, die Unfähigkeit und den Widerwillen, Nachrichten anzuschauen oder anzuhören. Man erträgt das Elend nicht länger, schaltet ab. Ganz buchstäblich. Es ist zu bedrückend. Man will die täglichen Horrormeldungen nicht mehr hören, zieht sich zurück in die eigene, kleine, private Welt. Versucht einfach, den eigenen Alltag zu bestehen und die großen, weltbewegenden Krisen von sich fernzuhalten.
In diese Welt ein Kind setzen. Oder Geburtstag feiern. Und sei es der Geburtstag eines fast 50jährigen Kindes mit einem inzwischen vielleicht leicht renovierungsbedürftigen Äußeren, aber dafür mit einer ganzen Menge an Lebenserfahrung.
Werfen wir einen Blick auf die beiden Schrifttexte des heutigen Tages und fragen, was sie uns in diese krisenhafte Situation hinein zu sagen haben.
Der erste der beiden Texte, die heutige Lesung, stammt aus der Apostelgeschichte, ein Auszug aus der sogenannten Areopag-Rede des Paulus. Paulus steht mitten auf dem Areopag in Athen und verkündet den Athenerinnen und Athenern den unbekannten Gott der jungen Christusbewegung.
Doch so unbekannt ist dieser Gott gar nicht: Es ist der Gott der jüdischen Tradition, der Gott des Propheten Jesaja, der Schöpfergott, der Himmel und Erde gemacht hat, der eine und einzige Gott, der allem, was ist, Sein und Leben und Atem gibt. Es ist der Gott, der auch den Menschen gemacht hat, als sein Abbild, von seinem Geschlecht, und der ihm Zeit und Raum zum Leben schenkt. Jedem Menschen ist er nah, zuinnerst gegenwärtig, keinem ist er fern, denn – so der Spitzensatz dieser Perikope – „in ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir“ (Apg 17,28).
„In ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir“ (Apg 17,28). Das ist zunächst einmal ein Satz über Gott: Gott ist mehr als der nette Typ von nebenan, den wir in Krisenzeiten anrufen, um es mit uns selbst besser aushalten zu können. Gott ist mehr als eine Endlichkeitsbewältigungsmaschine. Er ist auch mehr als eine Person unter anderen Personen. Er ist das unsagbare Geheimnis, das letzte Wort vor dem Verstummen, die Luft, die wir atmen und der Geist, der die ganze Welt durchpulst.
Gott und die Welt, das sind nicht zwei Größen, die zusammen mehr ergeben als Gott allein. Sondern alles, was ist, jede Träne und jedes Kinderlachen, jeder Tau und jedes Seufzen, alles das findet Platz in Gott, der sich von all dem anrühren und betreffen lässt – und der es hält und trägt und in unendlicher Zartheit in sich birgt.
Der Hass, der hochkochende neue Faschismus, die Polarisierungen und Ideologisierungen, die wir derzeit in unserer Gesellschaft, vor allem in den sozialen Medien, erleben müssen, sind eine Folge der Angst, die durch die aktuellen Krisen hervorgerufen wird. Wer unsicher und ängstlich ist, wessen Identität instabil zu werden droht, der sehnt sich nach Vereinfachung und Sicherheit, der ruft nach dem starken Führer und unterteilt die Welt in ein Wir-hier-drinnen und ein Die-da-draußen.
Die Areopag-Rede des Paulus ist das Gegenmittel dazu. Es ist uns Christinnen und Christen bei Strafe des Identitätsverlusts verboten, unsere Identität auf Kosten des Existenzrechts anderer auszuleben. Es ist uns bei Strafe des Verlusts unserer Glaubensgrundlage verboten, unsere Identität als Christinnen und Christen identitär und abgrenzend zu pflegen. Denn Gott ist ein einer und einziger Gott, der Gott aller Menschen. Wer ihn allein für sich beansprucht, verfehlt ihn.
Dieser Universalismus sollte unser Tun als Bürgerinnen und Bürger in Zeiten der multiplen Krisen leiten. Er meint keine Gleichmacherei, macht also eine Parteinahme für die Schwachen nicht unmöglich – ganz im Gegenteil! Aber er bewahrt uns vor der Versuchung, die Welt vorschnell in Schwarz und Weiß einzuteilen. Er schützt uns vor Hass und Raserei, weil er lehrt, einen jeden Menschen als Kind Gottes zu sehen.
Dieser christliche Universalismus sollte aber auch unser Tun als Christinnen und Christen leiten, gerade auch mit Blick auf die Ökumene. Denn was wir in der Gesellschaft erleben müssen, erleben wir in unserer Kirche ja ebenso: Aus Angst vor Bedeutungsverlust und Identitätsverlust igelt man sich erst recht ein, sucht das Heil in der Profilierung des Eigenen, in der Abgrenzung zu einer vermeintlich bösen Welt da draußen oder – schlimmer noch – in einer vermeintlich ruhmreichen Glorifizierung des Vergangenen. Auch die Ökumene ist müde geworden. Sie leidet unter der neuen falsch glänzenden Jugendlichkeit des Konfessionell-Identitären.
Und grad deshalb ist das, was hier im ÖZ seit nun bald einem halben Jahrhundert gepflegt wird, so wichtig. Weil Sie alle hier seit nun bald einem halben Jahrhundert immer wieder aufs Neue beweisen, dass christliche Identität nicht auf Kosten der anderen gelingt, auch nicht der anderen Konfession, sondern nur im Miteinander; dann also, wenn die Grenzen des Eigenen das Trennende verlieren und zur Kontur bzw. zur Gestalt werden, die uns gemeinsam leben lässt.
So geben Sie, in aller Vorläufigkeit und Alltäglichkeit, doch auch ein Zeugnis ab für einen Geist der christlichen Weite – gegen all die vermeintlichen identitären Verengungen und Verheißungen, die uns derzeit allenthalben vorgegaukelt werden.
Seit nun bereits zwei Jahren feiern Sie hier im ÖZ gemeinsam die Osternacht. Nicht nur wie früher mit einem gemeinsamen Osterfeuer und dann in getrennten Räumen, sondern mit einer gemeinsamen gottesdienstlichen Feier – bei der der katholische Priester der Eucharistie vorsteht, alle einlädt – und sein evangelischer Kollege die Predigt übernimmt. Ich habe mich, als ich das 2023 hier erstmals erleben durfte, riesig darüber gefreut. Ich möchte Sie dazu beglückwünschen, und ich möchte Sie ermutigen, auch in Zukunft genau hierbei weiter voranzugehen. Gönnen Sie sich nicht zu viel Geduld mit dem status quo.
Liebe Brüder und Schwestern, nun habe ich schon so viel gesprochen, dass die Ministrantinnen und Ministranten mit Blick auf das wartende Mittagessen ganz zu Recht schon unruhig werden. Haben Sie trotzdem noch einen Augenblick Geduld für unseren zweiten Text, die Verse des Tagesevangeliums nach Lukas? Ich verspreche, es wird nicht mehr lange dauern.
In dem kurzen Streitgespräch mit den Pharisäern entsagt sich der lukanische Jesus allen Terminspekulationen, als könne man das Ende der Welt vorausberechnen. Es ist eine Absage an apokalyptische Untergangs- und Vernichtungsfantasien.
Der Jesus des Lukasevangeliums greift eben jenen Universalismus auf, den wir gerade auch von Paulus aus der Apostelgeschichte gehört haben. Das Reich Gottes kommt nicht so, dass man es beobachten könnte, so als könnte man genau sagen: Hier ist es – und dort dann eben nicht. So einfach ist es nicht. Manchmal ist nicht so klar, was Zeichen des nahen Gottesreiches sind und was Blendwerk und Gaukelei. Aber das Entscheidende, das alles Entscheidende, das findet sich dann im letzten Satz des Tagesevangeliums: „Denn siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch“ (Lk 17,21).
„Das Reich Gottes ist mitten unter euch“ (Lk 17,21). Hier und jetzt. Heute. An diesem Ort. Man hat viel gerätselt, wie dieser Satz zu verstehen sei, und ob der historische Jesus wohl vielleicht sogar sich selbst damit gemeint hat, so, als sei er das Reich Gottes in Person. Wie auch immer: Klar ist in jedem Fall, dass der Satz präsentisch zu verstehen ist. Es geht um die Gegenwart Gottes hier und jetzt, mitten unter uns.
Das will eine Hoffnung wecken, die uns aus der News-Fatigue, von der ich eingangs sprach, herausreißt. Die Welt ist nicht verloren, und am Ende wird es gut sein. Und solange es noch nicht gut ist, ist es nicht das Ende. Wir brauchen uns von unseren Ängsten und Sorgen nicht aufzehren lassen. Denn Gott ist da. Mitten unter uns. Mitten in den Krisen der Gegenwart, die wir offenen Auges und nüchtern ansehen können, weil wir im Glauben wissen, dass wir auch in diesen Krisen gehalten und getragen sind.
„In ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir“ (Apg 17,28) – „Denn siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch“ (Lk 17,21). Hier, im Ökumenischen Zentrum in Lengfeld – und weit darüber hinaus. Nicht nur für die nächsten 49 Jahre, sondern ein für alle Mal.
Wir haben Grund zur Dankbarkeit.
Amen.